BAG: Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

(BAG Urteil vom 13. Dezember 2023 – 5 AZR 137/23)

 Ein wegweisendes Urteil hat das Bundesarbeitsgericht am 13. Dezember 2023 und damit kurz vor Weihnachten gefällt.

Genoss eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in der bisherigen Rechtsprechung (zumindest bis zum Urteil vom 8. September 2021 zum Az. 5 AZR 149/21) und Praxis einen nahezu unumstößlichen Nimbus, so hat das Bundesarbeitsgericht nunmehr Rahmenbedingungen definiert, innerhalb derer der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dann erschüttert sein kann, wenn der arbeitsunfähigen Arbeitnehmer nach Erhalt der Kündigung eine oder mehrere Folgebescheinigungen vorlegt, die exakt die Dauer der Kündigungsfrist umfassen und der Arbeitnehmer nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses nahtlos eine neue Tätigkeit aufnimmt.

Bislang war lediglich entschieden worden, dass eine zeitgleiche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bis zum Ende der Kündigungsfrist und Kündigung des Arbeitnehmers selbst nicht unbedingt hinzunehmen ist, sondern der Beweiswert erschüttert sein kann. Allerdings ist zu beachten, dass hier der Einzelfall Charakter der Entscheidung im Vordergrund stand und daher nicht klar war, ob dies auch für Fälle der arbeitgeberseitigen Kündigung gilt und welche Anforderungen zu beachten sind.

Der Sachverhalt stellt sich in der aktuellen Entscheidung wie folgt dar:

Der klagende Arbeitnehmer reichte bei dem beklagten Arbeitgeber eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ein, die ab dem 2. Mai 2022 bis voraussichtlich zum 6. Mai 2022 ausgestellt wurde. Diese Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wurde unmittelbar am 2. Mai 2022 vorgelegt. Der Arbeitgeber kündigte daraufhin mit Schreiben vom 2. Mai 2022 das Arbeitsverhältnis mit Wirkung zum 31. Mai 2022, dem Arbeitnehmer am 3. Mai 2022 zugegangen. Der Arbeitnehmer legte dann zwei Folgebescheinigungen über seine Arbeitsunfähigkeit vor, die exakt bis zum Ablauf der Kündigungsfrist am 31. Mai 2022 ausgestellt waren. Unmittelbar nach Ablauf der Kündigungsfrist, am 1. Juni 2022, nahm der Arbeitnehmer eine neue Tätigkeit bei einem anderen Arbeitgeber auf.

Der beklagte Arbeitgeber verweigerte für die Arbeitsunfähigkeitszeiten im Mai 2022 die Entgeltfortzahlung, da er der Ansicht war, der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sei erschüttert.

In den Vorinstanzen unterlag der Arbeitgeber. Der Klage des Arbeitnehmers auf Entgeltfortzahlung wurde jeweils stattgegeben.

Die Revision des Arbeitgebers zum Bundesarbeitsgericht hatte indes Erfolg. Das Bundesarbeitsgericht hob das Urteil der Vorinstanz insoweit auf, als es die Berufung des Arbeitgebers hinsichtlich der Zahlung für den Zeitraum 7. Mai 2022 bis 31. Mai 2022 zurückwies.

Das Bundesarbeitsgericht hob in der aktuellsten Entscheidung zunächst den hohen Beweiswert von ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen hervor, gab zugleich aber dem Arbeitgeber bei, dass er den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern kann, indem er Tatsachen vorträgt und im Bestreitensfall auch beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers geben.

Gelingt dies dem Arbeitgeber, so bleibt es bei der ursprünglichen Beweislast und der Arbeitnehmer muss seine Arbeitsunfähigkeit als anspruchsbegründende Voraussetzung seines eingeklagten Anspruchs aus § 3 Abs. 1 S. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz beweisen.

Das Bundesarbeitsgericht hat Rahmenbedingungen aufgestellt, beispielsweise, dass als Umstände für die Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen unerheblich ist, ob der Arbeitgeber oder der Arbeitnehmer die Kündigung ausgesprochen hat oder ob für den Nachweis der Arbeitsunfähigkeit eine oder mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt wurden. Stets sei eine einzelfallbezogene Würdigung notwendig.

Das Bundesarbeitsgericht sah im konkreten Fall bei der ersten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eine sogenannte Koinzidenz zwischen Kündigung & Arbeitsunfähigkeit nicht als gegeben an, da die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bereits am 2. Mai 2022 und damit einen Tag vor Zugang der Kündigung nachgewiesen war.

Eine andere Beurteilung sei hingegen bei den Folgebescheinigungen geboten, da diese durch die taggenaue Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit bis zum Ablauf der Kündigungsfrist und dem weiter hinzutretenden Umstand, dass der Kläger unmittelbar nach Ablauf der Arbeitsunfähigkeit eine neue Tätigkeit bei einem neuen Arbeitgeber aufnahm anders zu beurteilen seien.

Interessanterweise merkte das Bundesarbeitsgericht noch an, dass bei einer nachweislichen Kenntnis des Arbeitnehmers von einer beabsichtigten Kündigung, beispielsweise weil der Betriebsrat eingebunden ist, eine dann angezeigte Arbeitsunfähigkeit exakt bis zum Ablauf der Kündigungsfrist und unmittelbar folgende Aufnahme einer anderen Tätigkeit den Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für den gesamten Zeitraum erschüttern können.

Diese Entscheidung ist für Arbeitgeber interessant, werden Ihnen dadurch doch erhebliche Handlungsmöglichkeiten eröffnet, gegen vermutete „Krankmacher“ vorgehen zu können, wenn diese – wie dies bislang teilweise praktiziert wurde – nach Ausspruch der Kündigung arbeitsunfähig sind und hieran Zweifel bestehen.

Hüwel

Rechtsanwalt und Fachanwalt