BAG: Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

(BAG Urteil vom 06. Dezember 2023 – 5 AZR 349/22)

 Das Bundesarbeitsgericht war im letzten Kalenderjahr äußerst fleißig und hat eine neue für viele Arbeitnehmer beachtenswerte Entscheidung getroffen.

Gehen bislang viele Arbeitnehmer davon aus, dass nach Ableistung der geschuldeten Arbeitszeit sie vom Chef in Ruhe gelassen werden müssen, hat das Bundesarbeitsgericht nun im Fall eines Rettungssanitäters anders geurteilt. Nachdem die Vorinstanzen jeweils entschieden hatten, dass ein Arbeitnehmer in seiner Freizeit keine SMS auf seinem Handy lesen müsse – denn es gehöre zu den vornehmsten Persönlichkeitsrechten, dass ein Mensch selbst entscheidet, für wen er oder sie in seiner Freizeit erreichbar sein will oder nicht – hat das Bundesarbeitsgericht nun für bestimmte Berufsgruppen anders entschieden.

Vorliegend ging es um einen Notfallsanitäter, der sich 11,75 Arbeitsstunden gutschreiben lassen wollte. Die Anerkennung hatte der Arbeitgeber mit der Begründung verweigert, dass der Arbeitnehmer zweimal eine kurzfristige Änderung seines Dienstplans erst nach dem regulären Schichtbeginn zur Kenntnis genommen habe. Dies sei zu spät für die angeordneten Verschiebungen von Einsatzort und Uhrzeit gewesen. Telefonisch sei der als Springer eingesetzte Rettungssanitäter jeweils nicht erreichbar gewesen und habe ebenso wenig auf die daraufhin verschickten Kurznachrichten aufs Handy sowie per E-Mail reagiert. Jedenfalls zu spät für den Schichtbeginn. Die Begründung des Arbeitnehmers lautete: Das Mobiltelefon habe er zwischen den Dienstzeiten auf lautlos gestellt, um sich um seine Kinder kümmern zu können.

Aus diesen Äußerungen schließt das Bundesarbeitsgericht nun, dass der Rettungssanitäter seiner Arbeitsleistung zu spät angeboten habe. Aus diesem Grund habe sich der Arbeitgeber nicht in Annahmeverzug befunden. Er durfte mithin das Arbeitszeitkonto kürzen und musste auch die ausgesprochene Abmahnung nicht aus der Personalakte entfernen.

Dem vorangegangen war unter anderem ein Verhalten des Beschäftigten, dass das Bundesarbeitsgericht im vorliegenden Fall nicht durchgehen ließ: Er hatte erst um 7:30 Uhr morgens seine Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme mitgeteilt – die Arbeitsaufnahme wäre aber schon um 6:30 Uhr und an einem anderen Ort fällig gewesen. Der Arbeitgeber seinerseits hatte dies dem Rettungssanitäter am Vortag gegen 13:20 Uhr auch so mitgeteilt. Laut einer Betriebsvereinbarung, die eine auf fünf Ebenen gestaffelte, immer weitergehende Konkretisierung der Schichtpläne vorsah, hätte er dies sogar noch am Vorabend bis 20:00 Uhr tun können.

Diese Regelung war laut Bundesarbeitsgericht vom Direktionsrecht des § 106 S. 1 Gewerbeordnung gedeckt. Es verstoße weder gegen das Teilzeit- und Befristungsgesetz noch gegen den Arbeitsschutz nach dem Arbeitszeitgesetz und schließlich auch nicht gegen die EU-Richtlinie von 2003 über „bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung“. Denn bei dieser Richtlinie nimmt der EuGH ebenfalls keine Arbeitszeit an, wenn etwaige Einschränkungen des Beschäftigten erlaubten, trotzdem ohne größere Anstrengungen eigene Interessen zu verwirklichen – selbst bei einer Rufbereitschaft.

Maßgeblich für das nun abgefasste Urteil war somit eine für den Kläger geltenden Nebenpflicht aus dem Arbeitsvertragsverhältnis, nämlich die Zuteilung des Dienstes zur Kenntnis zu nehmen, selbst wenn sie auf seinem Mobiltelefon eingegangen sei. Diese Pflicht habe der Rettungssanitäter auch außerhalb seiner eigentlichen Dienstzeit als Notfallsanitäter zu erfüllen. Denn nach § 241 Abs. 2 BGB ist jede Partei des Arbeitsvertrags zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen Ihres Vertragspartners verpflichtet. Daraus schließen die Gerichte, dass der Sanitäter im Rahmen seiner geschuldeten Mitwirkungspflicht nicht ununterbrochen für seinen Arbeitgeber erreichbar sein müsse.

Es bleibe aber ihm überlassen, wann und wo er von einer SMS Kenntnis nehmen wolle, mit der ihn sein Arbeitgeber über die Konkretisierung seines Springerdienstes informiert hat. Er ist also keineswegs verpflichtet, den gesamten Tag auf sein Handy zu schauen und sich zum Dienst bereitzuhalten. Laut Bundesarbeitsgericht hätte sogar ausgereicht, wenn er dies am Morgen des Diensttages getan hätte. Die Ruhezeit wird demnach durch eine Kenntnisnahme gerade nicht unterbrochen. Vielmehr stand es dem Arbeitnehmer frei zu wählen, zu welchem Zeitpunkt er die Weisung des Arbeitgebers zur Kenntnis nimmt. Denn „der eigentliche Moment der Kenntnisnahme der SMS stellt sich als zeitlich derart geringfügig dar, dass auch insoweit von einer ganz erheblichen Beeinträchtigung der Nutzung der freien Zeit nicht ausgegangen werden kann“, so das Bundesarbeitsgericht.

Beachtenswert ist in der vorgenannten Konstellation, dass die Vorinstanz noch ein sogenanntes Recht auf Unerreichbarkeit proklamiert hatte. Das Ausgangsgericht argumentierte nämlich, dass gemäß § 130 BGB eine Willenserklärung mit ihrem Zugang wirksam wird, egal ob im Briefkasten, Postfach, E-Mail-Postfach oder dem Anrufbeantworter. Die Wirksamkeit träte aber erst dann ein, wenn die Kenntnisnahme durch den Empfänger möglich und nach der Verkehrsanschauung zu erwarten sei. Der Sanitäter sei demnach nicht verpflichtet gewesen während seiner Freizeit eine dienstliche SMS aufzurufen, um sich über seine Arbeitszeit zu informieren und damit zugleich seine Freizeit zu unterbrechen. Denn diesbezüglich handele es sich um Arbeitszeit, der Sanitäter erbringe mit dem Lesen der SMS eine Arbeitsleistung.

Dass das Bundesarbeitsgericht dies jetzt anders beurteilt hat, wurde oben anschaulich dargetan.

Arbeitnehmer müssen sich also darauf einstellen, dass in besonderen Fallkonstellationen von Ihnen durchaus erwartet werden kann, dass sie zumindest eine Weisung des Arbeitgebers zur Kenntnis nehmen müssen.

Hüwel

Rechtsanwalt und Fachanwalt